Donnerstag, 26. Juli 2018

Standardwerke der Musikgeschichte: Benoît and the Mandelbrots - Syff002

Seit dem Tag, an dem diese Platte zu mir ins Haus gekommen war, habe ich versucht ein paar Worte darüber zu verlieren und es ist mir bis auf ein paar wenige Sätze über die erste von vier Seiten bis heute nicht gelungen. Und diese paar Sätze sind auf irgendeinem Rechner gelandet, den ich gerade nicht mehr ausfindig machen kann. Höchste Zeit also neu zu beginnen!

Verschiedene Formen unterstreichen den hohen Anspruch des Projekts
Doch worum geht es? Syff002 ist nicht wirklich ein aussagekräftiger Titel, insbesondere wenn man bedenkt, dass dieses Label erst eine 'richtige' andere Veröffentlichung aufweist (siehe Link). Und doch hat man es hier mit einem Dokument nicht nur der Gruppe Benoît and the Mandelbrots, sondern einer ganzen Musikszene namens Live-Coding zu tun. Zumeist mit Leben gefüllt auf sogenannten Algoraves steht dieser Begriff für algorithmische Musik, die zumeist live vor den Augen des Publikums als Visuals programmiert wird. Auch live gecodete Bilderfolgen können dabei ein Teil der Performance sein.

Seit 2009 bildet die hier vertretene Gruppe dabei einen elementaren Bestandteil dieser Szene. Mittlerweile etwas verstreut und inaktiv, kann man nur von Glück reden, dass hier ein Zeugnis dieser sonst nur live anzutreffenden Musikform, abgelegt wurde. Wie es standesgemäß ist, wurden dabei auch die auf der Platte vertretenen Stücke in improvisierten Coding-Sessions erstellt.

Das erste dieser so entstandenen Stücke trägt den Namen der Stadt in der Benoît and the Mandelbrots entstanden und über die größte Zeit ihres Bestehens auch wirkten: Karlsruhe.
Krrr tschhhh schrapschrappsproing
Mit leichtem Tuten und knarzen, das sich aus Schallplattenknistern herauskristallisiert fängt das Stück an. Eine lauter werdendes Loungethema fließt aus dem Hintergrund dazu und haftet als dauerhafte Ambientstimmung zur Verbindung und Übertönung des Piepens und des Klackerns zwischen Ratsche und Fahrradspeichen, welches im späteren Verlauf um Geräusche wie fallende Steinchen ergänzt wird, bevor sich der Klang hinter der wabernden Ambient-Soundwand stetig zurückzieht. Diese wird dabei teils etwas schriller teils mit düsterem Timbre versehen und bildet mit leichten Windspielglöckchen im Hintergrund das bestimmende Motiv in der zweiten Hälfte, in der diese dann auch träumerisch-nostalgischer und leichter, fast elysisch-erhaben wirkt. Insgesamt ein sehr leichtes träumerisches Stück, das man vielleicht am ehesten mit einem warmen Sommertag in der Fächerstad assoziieren kann.

A
Guritchi/ That did it geht dem entgegen vollkommen ungelenk schnatternd los. Glitchbassboxstimulanzien und gefühlte 1000 Sprungfedern, die entfernt an das Intro von Bela Lugosi's Dead erinnen, erwarten den Hörer zu Beginn. Ein rauschendes Stampfen tritt dazu wie von überlasteten Rechnern und beschwört ein Inferno aus modularem Geräusch und schreienden Industrienadeldruckern herauf, ehe das Stück in diese Noisegewitter endet. Kurz gesagt eine entsprechend des Titels Glitchvariante des Codemöglichen.

B
Auf Seite B folgt mit Tranceportation der Dance-Titel des Albums. Mit Stimulanzien, die an Tropfen auf umgedrehte Plastikeimer erinnern, startet ein mitreißender Track mit treibendem Beat unter Leitung einer oszillierenden flächigen Leitmelodie über Höhen und Tiefen, schnelle und langsame Fahrgewässer. In einem einlullenden Moment übernimmt schließlich der Beat die Leitung und erinnert an die Ravemusik des Kollegen und Labelchefs Dunard. Etwas wilder treibt der Track mit einigen Rauscheblitzen und Beataneinanderreihung dem Höhepunkt entgegen, nur um sich zwischendurch nochmal Zeit für Pausen und Modulationsspielchen zu nehmen. Verfremdetes Zuggeheul und Dampf machen das Warten auf den Drop unerträglich
und dieser kommt denn auch nicht. Stattdessen sinkt der Track zurück ins nichts.

Nach einer Pause kommt als Zwischenspiel lautstark anschwellendes Brummen, das in Folge etwas gedämpft wird, aber mit Bearbeitung kratzende Soundintervalle mit einem leichten Hauch vorbeiziehender Düsenjäger bildet.

Auf Platte zwei beginnt es recht düster kammermusikmäßig in Classic. Telefontuten und ein Stil, wie man ihn vielleicht von experimentellen 80er-Jahre-Synthiegruppen kennt. Ein blubbernder Synthiesound steigert sich stoppt und fängt von neuem an, wird lauter, löst sich in einem
C
trackbestimmenden Krisseln und Hintergrundstörgeräusch auf aus dem zwischenzeitlich ein hallreiches Hämmern hervorgeht. Bei allen weiter auftretenden, weiter hallreichen Effekten, bleibt dabei der gediegene sanfte Stil erhalten, der irgendwann auch wieder etwas an den Eingangstrack Karlsruhe zurückerinnert. Sanft endet der Track mit letzten Piepgeräuschen, nachdem der Sound von Flammengeräuschen weggebrannt wird.

Im Folgenden sehr stressig und schnell geht Gurke voran. Kleine gestockte Mikrogeräusche geben neben Helikopterartigem einen schnellen Schritt vor unterdessen mit Meeresrauschen ein Tuka-Tuka-Rhythmus hinzukommt. Von links, rechts, oben und unten geht so ein wildes Getrommel und Flipper eine Symbiose ein. Die aufblitzenden Glitschschrittvorgaben werden kratziger und schnarrender, das wild Potpourri stärker. Einige Zeit treibt diese überfordernde Dengelei weiter ihr Unwesen, bis frisch brechendes Glas im Vordergrund die letzten tiefen Metalleinschläge zur letzten Ruhe begleitet. Noiseartig lebendig mit Remniszensen an IDM lässt sich der Stil zusammenfassend noch am ehesten beschreiben.

Grainface entwickelt sich aus Drones wie aus der Höhle. Elektronische Zuckungen, wie Rufe unbekannter Fledermäuse reihen sich ohne Pause aneinander, während der Höhlendrone medi
D
tativ durchgehend weiterwirkt. Dessen Entwicklung geht gen Gong mit schleichender Fortführung in esoterisch-mystische Gefilde, spätestens erkennbar wenn Klänge wie von Schellen zu vernehmen sind. Der ruhige Track zum Räucherstäbchen abbrennen lassen wird im späteren Verlauf mit synthetischen leichten Datengewittern angereichert. Ma assoziiert gespielte Sägen, die teils über den sich monoton wiederholenden Hall legen. Der Track wird mit diesen stark künstlichen Elementen leicht belebter, zu einer Art Fiebertraum, wie ihn schon das Maserngesicht als Titel nahelegt. Zum Ende flaut der Track wieder ab und in die rituelle Grundstimmung zuvor zurück.

Als Outro: Glockengeläut.


Als Download sind noch weitere Titel anzutreffen, welche im Folgenden jedoch nicht besprochen werden. Stattdessen soll der Versuch eines Fazits dieses Albums unternommen werden. Ein nicht ganz so einfaches Unterfangen, denn ein klassisches Album ist syff#002 sicherlich nicht. Verschiedenartigste komplexe Soundkompositionen lassen kein Leitthema oder übergeordnete Idee erkennen, klassische Übergänge zwischen den Stücken sind schwer bis gar nicht auszumachen.
Trotzdem bietet jeder Titel für sich eine anregende Reise in die digitale Kunstklangwelt des Live-Codings, wobei die fehlende Gesamtidee zur Stärke wird. Das Album bietet so nämlich einen Rundumschlag dessen, was mit algorithmischer Musik geboten werden kann und ist so hör- und erlebbares Dokument der sonst so flüchtigen Live-Szene, das man sich ohne Reue in das heimische Regal holen kann: Musik zum Musik erleben und Tranceportation als Part jedes guten DJ-Sets.

Sonstiges: Das Album kommt als Doppel-Vinyl in aufklappbarem Packung mit Live-Visual-Ästhetik versehen. Dazu gibt es einen innenliegenden Downloadcode für die Tracks der Platte + Download-only tracks (Achtung! Download ohne die Kurzen Endexperimentalstücke auf den Seiten B und D).

Bestellbar ist die Platte augenblicklich auf der bandcamp-Sdeite des Labels sowie bei den dort aufgelisteten Shopseiten:
Syff