Muss man von dem
Release, welches hier besprochen wird, gehört haben? Die Antwort
lautet: Nicht wirklich. Aber, sofern man vielleicht einer der wenigen
HörerInnen des einstigen Duos Eisenlunge ist, sollte man jetzt die
Ohren spitzen. Denn nach Auflösung und Aufsplittung entstand im
Tübinger Exil nach einer weiteren Musikertrennung nun dieses
Soloalbum, das einen guten Schritt nach vorne macht.
F*** dich, deine City, ich habe sie...fotografiert: Von vorne... |
Kaum erklingen die
ersten Töne des Openers throwaway weiß man, das hier ein eigener
Kopf die Richtung bestimmt. Ein Beat schwer zu greifenden Taktmaßes
pocht unter elektronischen Spielereien und eingehauchten Soundfetzen
und erinnert an eine Mischung aus tödlicher Doris gemischt mit Party
Ruiner-Elektro aus dem Hause Egotwister. Man fühlt sich etwas wie in
den 80ern, nur der besseren Hälfte.
... und von hinten. |
Direkt im Anschluss
geht es mit angstraum jedoch mehr in Richtung des Postpunk, wenn aus
der Atmosphäre einer Industrieanlage minimale Klänge den Hörer ein
Stück weit mitreißen, um ihn dann in kleinen Zwischensequenzen
wieder fallen zu lassen, was allerdings insgesamt eher das Gefühl
einer Nachtfahrt durch das Industriegebiet erinnert. Das ist dann
zwar etwas beklemmend und verloren, aber noch nicht wirklich so
richtig angsteinflößend.
Der nachfolgende
Titel ist einem Flop der 90er gewidmet: Crystal Pepsi, die Pepsi-Cola
ganz ohne Farbstoffe (jund Koffein). Und tatsächlich gibt es an
dieser Stelle einen lupenreinen Sound zu hören. Ab und an untermalt
von elektronischem Blubbern und Xylophonanschlägen, bekommt man hier
die gefühlte Erhabenheit und artifizielle Luxuslebensweise die sich
neben Crystal Pepsi auch in verglasten Bürogebäuden, Kokain und
einer Hochkonjunktur für moderne Kunst als Statussymbol bemerkbar
machte, in Reinform.
„What is it about
society, that disappoints you so much?“, wird die Frage im nächsten
Stück gestellt, bevor der Klang eines ISDN-Modems aufheult.
darknet93 entwickelt sich von diesem jedoch recht schnell zu einem
technisierten Reggaesound. Mitte der zweiten Hälfte mutiert das
Stück dann zum treibenden Technorave, in dessen Verlauf gedanklich
die unschöne Antwort zu der Eingangsfrage gegeben wird, ehe real ein
„Nothing“ den Titel abschließt und somit auch klar werden lässt,
dass es beim Titel weniger um Internet, als das versteckte Nervennetz
im menschlichen Gehir geht. Im Hinblick auf den tlw. gespoilerten
Inhalt ein sehr schöner Kontrapunkt zu Crystal Pepsi.
Jetzt schon für das Leben nach dem Tod vorsorgen |
Für TänzerInnen
gibt es dann „macht“. Deftiges Hintergrundstampfen gibt die
Baseline zum Minimal-Clubsound des Tracks, in dem neben einigen
Kanonenschlägen auch die Truthbombs zur Freiheit und Würde des
Individuums gedroppt werden. Martialische anmutende Splitter sind an
dieser Stelle vermutlich nicht grundlos gewählt.
Etwas acapella,
sofern man die einzelnen Sprachsamples so deuten möchte, gibt es in
„helium“. Ansonsten ist das Hauptcharakteristikum, dass es hier
das erste Mal Chiptunes auf die Ohren gibt. Dieser ist dabei betont
nicht auf pure Party getrimmt, sondern versucht sich als Unterstützer
einer leicht schwebenden Atmosphäre, wobei dieses Zusammenspiel an
so mancher Stelle kurz vor dem Auseinanderbrechen steht und nur mit
Mühe hält.
Das Zwischenspiel
„mechanic“ bietet dann einen kleinen Ausflug zu ein paar
Konkretklängen aus dem Industrialbereich, sticht jedoch vor allem
durch die Ausnutzung von Stereo hervor.
Wer übrigens
langsam auf den Elektrodampfhammer hofft wird auch bei neonskyline
1985 enttäuscht werden. Melancholischer, ruhiger Synthwave mäandert
vor sich hin, hält aber erstaunlicherweise über fünf Minuten die
Spannung, bis auch verraten wird, wessen Blick auf die Skyline dies
ist.
Dem folgt eine
kleine Zigarettenpause, in der die Spannung gehalten wird, ehe es in
„thejob“ dann auf Synthwaverampage geht. Diesmal der Natur der
Sache entsprechend getriebener, was bei Geargrind allerdings ziemlich
nahe an einen Jean-Michel Jarre Sound kommt.
Danch:
ahardnightsdawn, die Polizeisirenen klingen zu einem langsamen
Drumsample für einen sehr verrauchten sehr einsamen Club, eine
Zigarette wird angesteckt, die Synths wirken distanziert, DER
Soundtrack zu einem Film Noir und schließlich:
Das Outro
Der zehnfach durchstochene Edelmann verspricht Glück in der | Liebe |
Orgelsound zu einem
gestoßenen und stets wiederholten „H“, ab und an gehauchter
Gesang. Melancholisch und getragen geht es trotz einsetzendem Beat
dem Ende entgegen, das tatsächlich erst mit dem folgenden Bonustrack
wirklich kommt. Dazu sei jedoch nur gesagt, dass er Spuren von
Vaporwave und Schleichwerbung enthalten kann.
Was ist insgesamt zu
sagen: Synthwave-Charakter und der lupenreine 90er-Crystal Pepsi
Style sind bestimmend für dieses Album, das neben etwas
Kapitalismuskritik auch sonst gefällige Ideen verwirklicht, bzw im
letzten Drittel auch gar eine Geschichte zu erzählen vermag. Wer
dieses Album in sein Haus holt, sollte sich also bewusst sein, dass
er hier ein definitiv eigenständiges Werk und nicht Elektroalbum 213
vor sich liegen hat. Das merkt man auch nicht nur bei Ideen, sondern
auch am Sound, den man in dieser Mischung seltener antrifft, denn
weder hat man hier den absoluten Ravesound, noch kratzige Chiptunes,
noch die Dauerbaseline heute wieder aufkeimender
Minimal-Synthie-Projekte, sondern etwas, das eine Mischung aus all
dem, vielleicht gekreuzt mit einem Biosphere-Album hat, was ein
Produkt ergibt, das sich vielleicht am besten breit auf dem Sofa
liegend genießen lässt. Das wird vermutlich nicht jedermanns
Geschmack sein, cool ist es dennoch allemal.
Und jetzt noch etwas
zur physischen Komponente: Das Album kommt im weißen Digipack,
beklebt mit Fotos einer Stadt bei Abend, jeweils vorne und hinten.
Dazu eine (Tarot?)karte, bei der zumindest ich die 10 habe und auf
deren Rückseite die Grüße und eigenen Gedanken zum Album stehen.
„This Album captures the feeling that cityscapes give me. It is
forboding, reassuring, empty, full of life, scary and safe all the
same time. The pinnacle of human civilization and its downfall
combined in one behemoth“, heißt es da und auch diese Sicht ist
eine durchgehend valide. Dazu gibt’s dann noch 1000 Hell Dollar und
natürlich die CD, die schwarz von unten ist, und weiß bedruckt und
bestempelt mit Titel und Projektnamen.
tl;dr: Perfect
album. I rate it 5/7. Here is a drawing of a cat:
Meow! (kill me pls) |
PS: Wer ein Album sein eigen nennen will: Die einzige Möglichkeit aktuell ist ein PM bei facebook: https://www.facebook.com/Geargrind/
oder der Besuch eines der seltenen Konzerte.
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